Inhalte des Unterrichts im Snake-Style
Allgemeine Ziele des Trainings
Tai Chi Chuan ist eine jahrhundertealte Trainingsweise. Eine kraftvolle Körperhaltung, die eine enorme innere Körperspannung erzeugt, aber die äußere Muskulatur entspannen lässt, ist ein Ziel dieser Tradition. Diese Körperspannung wird gepaart mit vielseitigen Bewegungen. Deswegen handelt es sich auch um eine Bewegungsschule, in der der Übende lernt, die Spannung und Kraft der inneren Muskulatur zur Quelle jeder Bewegung zu machen. Die Bewegungsweise, die mit Training zunehmend auch im Alltag zur Normalität wird, verleiht den Körperbewegungen eine Qualität, die besonders ausdauernd, kraftvoll und gleichzeitig mühelos, weich und deshalb flexibel und sogar schnell ist.
Die chinesischen Lehrer bezeichnen diese Haltung und Bewegung auch als „Qi Gong“, weil das Qi des Übenden gestärkt wird. Diese Stärkung des Qi ist nach traditionell chinesischer Medizin die Grundlage für ein gesundes und langes Leben, das in jedem Alter Beweglichkeit, Wohlgefühl, innere Ruhe und Kraft verspricht.
Großmeister Ip Tai Tak, der über Jahrzehnte hinweg die vollständige Familienlehre studierte, sah Tai Chi Chuan aber vor allem als Kampfkunst an. Sie wurde als ein in Kraft und Geschwindigkeit überlegenes Kampfsystem entwickelt. Ip Tai Tak verkörperte diese Überlegenheit in Perfektion, konnte er doch sogar mit 70 Jahren noch deutlich jüngere hochgradige Dan-Schüler des Karate und des allgemein verbreiteten Tiger-Stils mit Lockerheit dominieren. Für ihn war der gesundheitliche Nutzen nur ein erfreulicher und selbstverständlicher Nebeneffekt.
Für den erfolgreichen Tai Chi-Schüler entwickelt sich aus dem Training nach und nach ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen Lebens: Je größer das Verständnis und das Gefühl für die Bewegungslehre wird, desto mehr erfüllt sie den Übenden mit Wohlbefinden und Freude am eigenen Körper. Der gesamte menschliche Bewegungsapparat wird von Grund auf weiterentwickelt und Körperbewegungen aller Art werden als Vergnügen wahrgenommen. Das damit erreichte Glücksgefühl erzeugt zusammen mit der Komplexität der Bewegungen einen geistigen Zustand, der vollkommen auf den Moment und das Hier und Jetzt fokussiert ist. Aus diesem Grund ist Tai Chi auch eine hervorragende Meditation und Achtsamkeitsübung.
Trainingsetappen (Vom Anfänger zum qualifizierten Lehrer)
Auf den ersten Blick könnte man meinen, Tai Chi Chuan sei eine einfache Choreographie, die ähnlich wie ein Tanz auswendig gelernt werden muss. Tatsächlich ist die vollständige Tradition der Familie Yang ein sehr komplexes System. Die Meisterung dieser Lehre erfordert viele Jahre der täglichen Auseinandersetzung mit den Übungen und vor allem mit den dahinter stehenden Ideen. Die einzigartige chinesische Kampfkunst enthält keine Grade oder Gürtel, sondern der Fortschritt des Einzelnen ist sehr individuell und der Weg zur Perfektion ein dauerhaftes Lernen und Verstehen. Die persönliche Entwicklung ist fließend und lässt sich nicht kategorisieren. Es existieren auch keine unterschiedlichen Formen, die an das Niveau des Übenden angepasst sind (traditionell kannte beispielsweise Karate ebenfalls keine Grade und unterschiedlichen Katas – der japanische Begriff für Formen – unterhalb des Schwarzgurtes / 1. Dan).
Es gibt keine Übungen, die nur für Anfänger gedacht wären: Auch ein Fortgeschrittener sollte noch regelmäßig die zuerst gelernten Übungen zur Mobilisierung ausführen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man noch nach über zehn Jahren der Auseinandersetzung damit immer neue Erkenntnisse über die muskulären Zusammenhänge für das Tai Chi Chuan macht.
Natürlich gibt es eine Reihenfolge, in der neue Übungen erlernt werden können. Dabei stehen solche Übungen am Anfang, die in der Ausführung erstmal nicht so schwer zu verstehen sind. Später folgen Übungen, die bereits ein erweitertes Körpergefühl und eine gesteigerte Kontrolle über die Muskulatur erfordern.
Die folgende Reihenfolge, in der das komplexe Übungssystem erlernt werden kann, ist aus meiner Sicht aus den oben genannten Gründen sinnvoll:
- Anfänger-Niveau:
- Mobilisierung, Aktivierung und Stärkung: Übungen von Mary Yang (Tochter von Großmeister Yang Sau Chung) und von Großmeister Ip Tai Tak
- Traditionelle Form des Yang-Stils, wobei der Schwerpunkt auf dem Erlernen der Reihenfolge der Techniken beruht. Von Anfang an jedoch werden schon die Prinzipien der Familie Yang eingeführt, die gerade im Snake-Style gut sichtbar werden.
- Das Anfänger-Niveau kann nach wenigen Monaten abgeschlossen werden, je nachdem, wie viel Training man in Anspruch nimmt und wie viel man das Erlernte übt. Einige Schüler*innen verbleiben auch auf diesem Level.
- Mittleres Niveau:
- Die Ausführung der Prinzipien bei der Übung der Form rückt nun in den Vordergrund. Ist die Bewegungsfolge so verinnerlicht, dass man sich über die Reihenfolge keine Gedanken mehr machen muss, ist der Kopf frei für diese Bewegungs- und Haltungsprinzipien. Mit ihrer Hilfe erhält die Form nach und nach ihre „Schönheit“: eine flüssige, äußerlich entspannte und präzise Ausführung. Außerdem entfaltet sie ihre kräftigende Wirkung auf die innere „Core-Muskulatur“.
- Ip-Hände – Von Großmeister Ip Tai Tak entwickelte Übungen: Mit ihrer Hilfe lernt der ausdauernd Übende die Zusammenhänge der Körperbewegung von Fuß bis Hand. Es wird klar, warum und wie – den Yang-Prinzipien entsprechend – die Arme von der Schulter bis zum Handgelenk locker sein müssen, um die Bewegung des Rumpfes zur Quelle aller Kraft zu machen.
- Waffen-Formen: Ab diesem Zeitpunkt bietet es sich an, mit den von der Yang-Familie traditionell praktizierten chinesischen Waffen zu üben –
Säbel-Form und Schwert-Form erweitern das Verständnis der Bewegungslehre, denn ihre saubere Ausführung ist nicht mehr ohne ein Verständnis und Können der Prinzipien möglich. Auch die von Meister Bob Boyd auf Grundlage von Ip Tai Taks unterrichteten Techniken entwickelte Speer-Form gehört dazu. Alle Waffenformen werden in größerer Geschwindigkeit ausgeführt und stellen so einen wichtigen Schritt hin zur kämpferischen Seite der Kunst dar. - Dingbu-Chuan : Diese im Stand und auf engstem Raum ausgeführte Form entwickelte Ip Tai Tak. Sie erweitert die Fülle an Kampftechniken aus der normalen Form durch zusätzliche Interpretationen. Für den Lernenden stellt sie vor allem große Ansprüche an die Rumpf-Beweglichkeit, weil sie trotz fehlender Schritte Techiken in alle Richtungen enthält.
- Push-Hands (Partnerübungen): Erst spät sollte ein*e Schüler*in an die Partnerübungen herangeführt werden. Denn diese erfordern ein tiefes Verständnis von den Prinzipien, damit nicht die gewohnte äußere Kraft zum Einsatz kommt, die alle Übungen sinnlos werden lässt.
- Fa Jin: Dies ist eine sehr alte Methode, mit der die Körperspannung punktuell und kraftvoll entladen werden kann. Die Fähigkeit, die sich hiermit entwickelt, ist das, was die großen Meister berühmt machte, weil sie mit unscheinbar kleinen Bewegungen ihre Partner wegzuschleudern vermochten. Ip Tai Tak lehrte hierfür ein Set von vorbereitenden Übungen. Dann übt man, indem man einen Partner gegen die Wand schleudert. Üblicherweise verwendet man eine oder zwei Hände, um den Impuls auf den Partner zu übertragen. Möglich ist das Fa Jin aber auch beispielsweise über den Rücken oder die Schulter.
- Partner-Form: Bob Boyd entwickelt seit zehn Jahren eine Choreographie, mit deren Hilfe der Fluss und die Prinzipien des Tai Chi Chuan mit Partner geübt werden können. Sie führt, zusammen mit den Partnerübungen, dem Fajin und der Inhalte für Fortgeschrittene zur Meisterung des Tai Chi Chuan als Kampfkunst.
- Grundsätzlich ist das Unterrichten des Snake-Style bei gutem Fortschritt im mittleren Niveau möglich und sinnvoll. Für das Erreichen eines solchen Niveaus sind – abhängig vom persönlichen Engagement – mindestens zwei Jahre, mitunter aber auch zehn oder mehr Jahre vonnöten.
- Fortgeschrittenes Niveau:
- Snake-Style Qi Gong / Zhang Zuangh: kraftvolles Qigong, bei dem interne Kraft (Core) ausgebaut und entwickelt wird. Die Ursprünge liegen bei der Familie Yang. Ip Tai Tak baute dieses System allerdings gemeinsam mit Yang Sau Chung aus, sodass mehr als ein Dutzend verschiedener meist unebewegter Positionen entstanden.
- Long Boxing – Chang Chuan / Schnelle Form : Im Anschluss an die erhöhte Frequenz beim Training der Waffenformen erhöht die "schnelle Form" den Anspruch an die Beweglichkeit und die Geschwindigkeit. Hierfür muss die Fähigkeit entwickelt werden, mühelos die Prinzipien umsetzen zu können.
- Vollendung als Kampfkunst: Erst durch die Entwicklung der internen Core-Kraft kann auf diesem Niveau an der wirkungsvollen Ausführung von Kampftechniken gearbeitet werden. Sie treten nun mehr und mehr in den Vordergrund des Trainings.
- Die Voraussetzung zur Arbeit auf diesem Niveau ist eine gründliche Kenntnis aller zuvor genannten Übungsweisen. Außerdem muss der Schüler dem Master Teacher Programm beitreten. Einige Übungen bleiben den Meisterschülern / Disciples vorbehalten. Es gibt derzeit zwei Meisterschüler, die offiziell die Familie Yang in der Folge Ip Tai Taks und Bob Boyds repräsentieren: Thierry Bae (Disciple von Bob Boyd), Arco Renz (Disciple von Thierry Bae)